Desde el Alma
Aus der Seele des Tango
Die Frage nach dem Wesen des Tango wird jede Tänzerin, jeder Tänzer auf seine ganz eigene Weise beantworten – entsteht doch eine eigene, aus dem eigenen Leib erfahrene Geschichte mit dem Tangotanzen.
Tango geschieht auf eine verdichtete Weise in Resonanz – zwischen mir und der Welt, zwischen dem Ich und dem Du, dem Eigenen und dem Fremden.
Da ist zunächst die Grundbewegung im Tango: das Gehen.
Das Gehen als menschliche Grundbewegung im Takt des Lebens, im Rhythmus des Herzschlags, der uns immer begleitet, der Grund-Groove unseres Seins. Von Beginn an erleben wir im Mutterleib den Takt des Herzschlags. Zunächst noch vorwiegend den Puls der Mutter und immer mehr un-seren eigenen Herzschlag. Er begleitet uns das ganze Leben hindurch, bis zum Tod. In der Liebe macht er den ganzen Körper aus, unser Leib wird das Herzpochen.
Im engen Tanz gehe ich in Resonanz mit dem fremden Herzschlag, der wie der eigene ist. Dies verbindet uns und die Musik füllt uns dabei an.
Gemeinsam gehen wir in Verbindung mit dem Takt, der Leib folgt dem Takt und trägt ihn zugleich in sich. Wir sind mit Körper und Seele in Resonanz mit der Musik, mit dem Takt und mit dem anderen Körper. Die Melodie spricht mit uns, singt in uns und sie erzählt auf magische Weise vom Leben, von Gefühlen, von Geschichten, die uns Menschen widerfahren.
Im Tango muss man offen sein für das, was passiert, sich konzentrieren auf sich selbst, den Anderen und die Musik. Diese Verbindung bringt eine bestimmte Schwingung hervor, sie ist jedes Mal eine andere und erinnert zugleich an alle erfahrenen.
Ich kann nichts festhalten. Die Dominanz des Denkens hebt sich auf, ich suche im Tanz die Balance: Körper und Geist, Leib und Seele gehen miteinander, werden als gesteigert erlebt in der Resonanz mit dem Anderen.
Tango wird zur Kultivierung des Selbst, zur Kultivierung der Verbindung mit dem Anderen: Tango wird zur gefeierten Lebenskunst.
Ich fühle, wie ich viele bin, ohne mich zu verlieren. Die Empathie ist meine Grundhaltung, ich bin aufmerksam, vielleicht sogar gebe ich mich hin – wenn Vertrauen da ist.
Natur und Kultur verbinden sich: Im artifiziellen Bewegungsspiel des Tango verbindet sich das Körperliche mit der Kunst der Musik – emphatisch gesprochen ist es wie eine Hochzeit von Natur und Kultur.
In der harmonischen Bewegung entsteht Ausdruck von Lebendig-Sein, von Leben in uns. Es geht um ganzheitliches Erleben, um die Überwindung des Getrenntseins von Kopf und Körper, von innen und außen, von Ich und Welt. Im Erleben des Eins-Seins von Körper und Denken, von Leib und Seele, von innen und außen, entsteht ein Wir. Die Grenzen zum Du heben sich auf.
Im Tango lassen wir uns ein auf das Essayistische, das Wagnis, die Aktion – anstelle der gedanklichen Vorwegnahme, der Absicherung und der Kontrolle. Das Eigene ist dabei ständig im Fluss. Im Tango erlebe ich Maß und Freiheit im dialektischem Prozess: Indem ich mich einlasse auf das Maß der Musik, das Maß des Rhythmus, das Maß meiner Bewegung, das Maß der Bewegung des Anderen, entstehen neue Freiräume: Die Reisen im Inneren sind vielfältig und spannend.
Es entstehen Momente der Selbstvergessenheit gerade in der intensiven Präsenz – es entsteht das, was wir Flow nennen. So kann Tango Spiel sein, Spiel mit dem Eigenen und dem Fremden. Das Selbst verändert sich in der Resonanz, wird zugleich noch tiefer und facettenreicher.
Das macht den Tango auch zum empfind- lichen Thema im Liebespaar, im Lebenspaar, weil die Paare sich wünschen, dass die Harmonie ein ständiger Begleiter sein möge, dass die Resonanz gesichert sein möge, dass die Liebe in jedem Tanz spürbar sein möge. Diese Erwartungen können enttäuscht werden und unfrei machen. Das Paar muss sich verabschieden von der Harmonie als Programm. Man sollte sich vielmehr freigeben, im Moment des Tanzens, auch mit fremden Tanzpartnern. Es gibt keinen Besitzanspruch im Tanz, im Tanz ist jeder frei und das Erlebte geschieht in seiner ganz eigenen Logik, die keine Logik mehr ist.
Das Gelingen von Tanzbewegungen ist im Grunde etwas sehr Intimes, das bewusst und unbewusst entsteht: Das Gelingen entsteht auch in der Achtung vor mir selbst, vor dem Anderen, im Verzicht auf Bewertung im geläufigen Sinn: Ein neuer Begriff von Qualität entsteht jenseits von richtig und falsch, gut und schlecht.
Tango kann nicht konsumiert werden, er kann auch nicht in Leistung gemessen werden. Qualität entsteht mit der Entfaltung und Freisetzung von Gefühl und Kreativität, die wir alle in uns tragen. Die Erfüllung im Tanz ist unverfügbar und bleibt ein Geschenk des Moments.
Das Spiel im Tanz ermöglicht uns, diese Qualitäten zu entdecken, zu entwickeln, zu kultivieren. Dies vollzieht sich in jedem individuell, unverwechselbar und besonders.
Wesentlich im Tango sind Geschmeidigkeit, Durchlässigkeit, Eleganz, Sinnlichkeit, Körperbeherrschung und Musikalität. Jeder macht sich auf einen eigenen Weg und kann erstaunliche und überraschende Erfahrungen machen.
Mit der Beibehaltung der Metaebene der kritischen Beobachtung und der Kopf-Kontrolle bleibt man jedoch außerhalb der unmittelbaren Erfahrung, man geht nicht in Resonanz, sondern bewahrt Sicherheitsabstand.
Der entfremdende Blick von außen weicht dem inneren ‚leiblichen’ Blick, der das Erleben meint. Eine innere, erlebte Schönheit manifestiert sich im sinnlichen Erleben. Ob sie von außen ‚gesehen’ wird, ist ihr egal. Im Innenraum des Tango kann Identität aufscheinen und erfahrbar werden.
Diese Erfahrung von Identität im Fluss können wir mitnehmen in die Welt, in unseren Umgang mit der Welt. Sie macht uns fähig, anders wahrzunehmen, anders zuzuhören, anders mitzufühlen, anders zu handeln.
Vielleicht reift ein anderer Begriff von Liebe, von Freigeben und Sich-Einlassen, jenseits von Besitznahme. Erotik entsteht in der Freiheit, im Unerwarteten, im Fluss, in der spontanen Begegnung, im Spiel mit der Fremdheit. Dies würde ich ‚Lebenskunst’ nennen. Lebenskunst in der Improvisation zu zweit, im Vertrauen auf sich und den Anderen. Es geht darum, unser leibliches Sein zu bejahen – es zu wagen, es auszuleben – im Sinne einer Philosophie des Lebens.
Manche sprechen vom Suchtcharakter des Tango, ich nenne es lieber Tangosehnsucht, die immer wieder erfüllte Momente verspricht und erfüllt.
Tango bleibt eine Verheißung.
von Kerstin Karkowski
Text entstanden 2009 – 2020
"Tangoexpression 15" / Mischtechnik auf Karton / Wojtek Pakmur 2004